Es sah so gut aus im Januar. Nach über 500 Neuinfektionen mit dem Ebolavirus pro Woche im November und Dezember sanken die Zahlen Mitte Januar in Sierra Leone rapide. Es gab sogar Tage, an denen alle 14 Distrikte ohne Neuerkrankungen blieben. „Wir bewegen uns auf die Null zu“, jubelte man. Präsident Ernest B. Koroma lockerte einige der zuvor geltenden Regeln, die öffentlichen Verkehrsmittel durften zum Beispiel wieder die übliche Anzahl Passagiere mitnehmen. Das Bildungsministerium gab bekannt, die Schulen würden im März nach neun Monaten endlich wiedereröffnen.
Es waren Signale der Hoffnung, die das Land so dringend nötig hatte. Aber es waren auch Signale, die dazu einluden, nachlässiger zu werden. Ebola verzeiht keine Fehler, keine Nachlässigkeit.
Der erneute Ausbruch in Rosanda, einem Dorf im Norden des Landes, ist ein Paradebeispiel für die Epidemie und die Probleme, mit denen das Land immer noch zu kämpfen hat. Er findet seinen Anfang in Aberdeen, einem Ortsteil der Hauptstadt Freetown, 200 km von Rosanda entfernt. Mehrere Fischer stecken sich auf See untereinander an und bringen die Krankheit im Februar mit ans Festland. Die Behörden lassen 700 Haushalte mit Kontakten zu Fischern unter Quarantäne stellen. Auch Abass Koroma, ein Mann Anfang 30, darf sein Haus für 21 Tage nicht verlassen. Als er sich eines morgens unwohl fühlt und sein Zustand sich im Laufe des Tages rapide verschlechtert, ruft er seine Mutter in Rosanda an.
Er solle nach Hause kommen, sie und der Heiler des Dorfes würden sich um ihn kümmern, bittet sie ihn. Koroma und seiner Frau gelingt es, heimlich der Quarantäne zu entfliehen. Ihnen gelingt es auch, auf der dreistündigen Fahrt an sämtlichen Checkpoints vorbeizukommen, wo die Körpertemperatur eines jeden Passagiers gemessen wird und Kranke herausgefiltert werden. Auch im Dorf tritt ihnen kein Widerstand entgegen. Man solle keine Fremden aufnehmen, vor allem keine Kranken und jeden Körperkontakt vermeiden – das wird den Sierra Leonern seit Wochen immer wieder eingeschärft. Aber Koroma ist ja kein Fremder und um seine Krankheit zu überspielen, lässt seine Mutter laute, fröhliche Musik laufen. Eine Hexe habe ihren Sohn beschossen und vergiftet, davon hat sie der Heiler überzeugt; er könne ihren Sohn heilen.
„Es gibt immer wieder Dinge im Leben, die wir Menschen nicht verstehen. Die einen versuchen dann Antworten auf diese Fragen in der Wissenschaft zu finden, andere in Religionen oder abergläubischen Traditionen. In Sierra Leone gibt es viele Menschen ohne jegliche Schulbildung und ohne ein wissenschaftliches Verständnis. Sie verstehen nicht, was ein Virus ist und was es dem Körper antut,“ sagt Hassan Sorie Koroma, 34. Seit Juni 2014 führt er Aufklärungskampagnen über das Ebolavirus durch, vor allem in ländlichen Gebieten. Immer wieder stoßen die Teams an ihre Grenzen, wenn sie in orangefarbenen Warnwesten von Haus zu Haus ziehen. „Auch wenn wir die gleiche Staatsbürgerschaft haben und die lokalen Stammessprachen sprechen, sind wir für viele Menschen in den Dörfern doch immer noch Fremde, genauso wie die Botschaften, die wir für sie haben. Lieber akzeptieren sie die Diagnosen der Heiler, die sie schon ihr Leben lang kennen.“
Koromas fiebriger Körper wird mit einem heißen Kräutersud bestrichen, mit Laken umwickelt und warm gehalten. Während der Behandlung stirbt er. Seine Angehörigen waschen und kleiden ihn ein letztes Mal neu ein, dann rufen sie die Notfallnummer. Dass mehrere Familienmitglieder und Freunde den Toten gewaschen und angefasst haben, verschweigen sie dem Beerdigungsteam. Als sich herausstellt, dass Koroma Ebola hatte, sind die Behörden in der Distrikthauptstadt Makeni alarmiert.
Die Stadthalle Makenis wurde bereits vor Monaten als Einsatzzentrale für den gesamten Distrikt Bombali umfunktioniert. Auf nationaler Ebene wurden verschiedene Säulen zur Bekämpfung eingerichtet, jeder Distrikt muss sich darunter organisieren. In der Einsatzzentrale Makenis sitzen Ansprechpartner für Aufklärungsarbeit, Quarantänemaßnahmen, Beerdigungen, Nachbetreuung und Sicherheit. Auf großen gelben Tafeln werden mehrmals täglich die Anzahl der Notrufe, bestätigten Neuerkrankungen, Todesfälle und Entlassungen aktualisiert. Seit wenigen Tagen hängen zwei bunte, selbstgemalte Plakate von einer Balustrade: „Lasst uns die Infektionskette durchbrechen!“ „Auf dem Weg zu Null Ebolafällen!“ Vielen Ebola-Kämpfern sieht man ihre Erschöpfung an, der Fall Rosanda ist wie ein Schlag in den Magen.
Montags bis sonntags, um 8 Uhr und um 17.30 Uhr treffen sich die Vertreter von Regierung, Nichtregierungsorganisationen und internationalen Institutionen zur Lagebesprechung. Sierra leonische Soldaten leiten die Meetings, sie beginnen auf die Minute genau. Wer zu spät kommt, wird nicht mehr hereingelassen. Sie waren weniger frequentiert in den Wochen zuvor, als der Fall Rosanda bekannt wird, füllen sich die Stuhlreihen wieder. Aufgaben werden verteilt, ihre Erfüllung wird täglich kontrolliert und protokolliert. Nach maximal 45 Minuten lösen sich die Versammlungen auf – Zeit zu handeln.
Die engsten Angehörigen Koromas werden außerhalb des Dorfes isoliert, man erstellt Bewegungsprofile von ihm und seiner Familie. Die Familie und der Heiler weigern sich immer noch zu glauben, dass ein Virus für die Krankheit verantwortlich ist. „In Sierra Leone wird Krankheit als etwas Höheres, Natürliches gesehen, auf das man keinen Einfluss hat. Deshalb ist es so schwierig, die Menschen zu Verhaltensänderungen zu bewegen“, sagt Hassan Sorie Koroma resigniert.
Um eine Ausbreitung außerhalb der Dorfgrenzen zu vermeiden, wird das gesamte 900-Seelen-Dorf unter Quarantäne gestellt, kein Bewohner darf das Dorf verlassen. Sicherheitsbeamte sind an allen Ein- und Ausgängen des Dorfes positioniert. Die Häuser von Nachbarn und engen Freunden der Familie werden mit rot-weißem Flatterband abgesteckt – high risk contacts. Für ihre Bewohner ist es die Grenze der Freiheit für die nächsten 21 Tage.
„Was wir in Rosanda sehen, ist schrecklich. Gleichzeitig ist es beeindruckend zu sehen, wie schnell und umfassend wir reagiert haben. Rosanda hat in kürzester Zeit das Komplettpaket an Notfallmaßnahmen bekommen, die Bewohner werden täglich medizinisch, mit sauberem Wasser, Nahrung und allem Notwendigen versorgt. Wir haben uns deutlich verbessert“, sagt Shaun Edgerley. Seit Oktober ist er im Auftrag des britischen Entwicklungshilfeministeriums in Sierra Leone, fast täglich besucht er Rosanda.
Trotz der schnellen Reaktion infizierten sich bis jetzt 59 Menschen in mehreren Infektionsketten. Eine gute Woche nach Koromas Tod werden der traditionelle Heiler und Koromas gesamte Familie symptomatisch. Sie hatten direkten Körperkontakt mit Koroma oder kamen mit seinen von Viren durchsetzten Körperflüssigkeiten in Berührung. Auch sie stecken weitere Personen an.
„Die Inkubationszeit für Ebola beträgt zwischen zwei und 21 Tage. Aus unserer Erfahrung wissen wir jedoch, dass die meisten Menschen zwischen dem achten und zehnten Tag symptomatisch werden. Daher wussten wir, was uns erwartet und auch, dass es mit einer Welle nicht vorbei sein würde“, erklärt Spencer B. Lloyd, Epidemiologe für die amerikanischen Zentren für Krankheitskontrolle und Prävention (CDC). Womit niemand gerechnet hat: Das Virus bleibt nicht im Dorf und löst vier weitere Herde aus, die sich nicht lokal auf ein Dorf beschränken lassen.
Ebola verlässt das Dorf mit zwei schwangeren, infizierten Frauen, die sich in einer Geburtsklinik untersuchen lassen und zu ihrer Herkunft lügen. Durch sie stecken sich zwei Pfleger und ein anderer Krankenhausmitarbeiter an. Alle fünf sind mittlerweile verstorben, das Personal der Klinik und die Familien und Freunde der Mitarbeiter stehen unter Quarantäne. Jetzt heißt es wieder abwarten, einige neue symptomatische Fälle wird es in der nächsten Woche wieder geben.
In Rosanda, das weiß man, wird die Infektionskette irgendwann enden, wahrscheinlich bald, denn die Schutzmaßnahmen zeigen erste Effekte. Ein wichtiger Schritt war es, die Enge im Dorf zu entzerren. Die Dorfschule ist auf einer Anhöhe gebaut, von hier kann man das ganze Dorf überblicken. Es ist dicht besiedelt, im Schnitt lebten 12 Menschen in einem Lehmhaus. Längst nicht jeder hatte eine eigene Matratze, in vielen Häusern aß die ganze Familie mit den Händen aus einem Topf. So hatte das Virus gute Chancen, immer weitergetragen zu werden. Jetzt hat jeder im Dorf sein eigenes Geschirr, weniger Menschen wohnen auf engem Raum zusammen, Risikofälle werden außerhalb des Dorfes isoliert. „Jeden Tag sind Helfer im Dorf, um die Fragen der Menschen zu beantworten und ihnen zu zeigen, wie sie sich selbst mit einfachen hygienischen Maßnahmen schützen könne“, so Lloyd. Die anderen Ausbruchsherde lokal zu begrenzen, ist schwieriger.
Die Sterberate im Fall Rosanda ist hoch, sie liegt bei über 60 Prozent. Wie es das Leben so spielt, überleben Koromas Mutter, seine Ehefrau, sein Bruder, seine Schwester und der traditionelle Heiler. Die Nachbarhäuser links und rechts sind fast gänzlich ausgestorben. Ins Dorf können die fünf Ãœberlebenden vorerst nicht zurück, vor allem die Mutter weiß, dass sie diejenige ist, die den Tod ins Dorf gebracht hat. Sie hat große Angst und wird vorerst an einem geschützten Ort bleiben. Der Heiler leugnet noch immer, dass es Ebola überhaupt gibt. „Mit den Heilern zusammenzuarbeiten, ist eine der größten Herausforderungen und es gibt noch keine Best-Practice-Empfehlung. Einige Heiler sehen keinen Widerspruch darin, im Wissen von Ebola alternative Methoden auszuüben, andere werden wir nie überzeugen können. Manchmal können wir schon eine Veränderung bewirken, wenn wir den Lebensunterhalt der Heiler sichern. Es bleibt jedoch ein Balanceakt, die Heiler miteinzubeziehen und sie zu ermutigen, das Richtige zu tun, und ihnen gleichzeitig nicht zu vermitteln, dass wir ihnen etwas überstülpen wollen“, so Edgerley. Der Heiler aus Rosanda könnte das Vertrauen, das sich langsam zwischen Dorfbewohnern und Helfern entwickelt, wieder zerstören; er ist ein einflussreicher Meinungsführer. Deshalb wird er erst entlassen werden, wenn es in seinem Dorf über drei Wochen keine neuen Fälle mehr gibt.
Der Fall Rosanda zeigt im Kleinen den Verlauf der Epidemie der letzten Monate. Die Helfer kämpfen gegen zwei unsichtbare Feinde: Das Virus und die Macht der Traditionen. Sie lassen ihnen nur Reaktionsspielraum. Der Präsident hat die Verhaltensregeln wieder verschärft, die Eröffnung der Schulen wurde vorerst auf April verschoben. Ein Schritt zur Schadensbegrenzung, denn auch die Teams der Ebolabekämpfung wären davon betroffen: Viele der gut ausgebildeten und mittlerweile erfahrenen Ebola-Kämpfer sind Schüler der älteren Jahrgänge oder Studenten. Sie würden große Lücken hinterlassen - gerade jetzt, wo sie wieder reagieren müssen.
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